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Briefing

Heim- oder Auswärtsspiel – „Halten“ Gerichtsstandsvereinbarungen im Lichte aktueller EuGH-Rechtsprechung noch?

I. Einleitung

Der Gerichtsstand, an dem ein Rechtsstreit vor staatlichen Gerichten geführt wird, ist ein wesentlicher Erfolgs-, Zeit- und Kostenfaktor:

  • Erfolgt etwa eine Klage zur Verjährungshemmung beim unzuständigen Gericht, kann die Verjährungsfrist ggf. nicht gehemmt werden.

  • Die Klage am falschen Gerichtsstand kann Schadensersatzansprüche auslösen.

  • In grenzüberschreitenden Fällen bedingt der Gerichtsstand die zu beachtende Sprache – nicht nur von Schriftsätzen, sondern beispielsweise auch von Urkunden oder Zeugen, was zu nicht unerheblichen Übersetzungs- und Dolmetscherkosten führen kann.

  • Ein fremder Gerichtsstand erfordert ggf. auch „fremde“ Anwälte, die sowohl die am Gerichtsstand gesprochene Sprache sprechen, als auch die dort geltenden Verfahrensregeln kennen.

  • Je nach Gerichtsstand kann das Verfahren erheblich länger dauern und damit kostspieliger werden.

Es verwundert deshalb nicht, dass AGB und Verträge regelmäßig Gerichtsstandsvereinbarungen enthalten (soweit zulässig/gewünscht auch Schiedsvereinbarungen). Allerdings stellt die jüngste Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Ryanair (Urteil vom 18.11.2020 – C-519/19) die Verbindlichkeit von Gerichtsstandvereinbarungen in bestimmten Konstellationen in Frage. Ob – um ein Bild aus dem Fußball zu bemühen – ein Klageverfahren als Heim- oder Auswärtsspiel stattfindet, ist infolge dieser Rechtsprechung selbst dann fraglich geworden, wenn eigentlich eine Gerichtsstandsvereinbarung existiert.


II. Das Ende verlässlicher Gerichtsstandsvereinbarungen?

Wo sollten staatliche Gerichtsverfahren geführt werden, wenn es eine – unterstellt: wirksame und einschlägige – Gerichtsstandsvereinbarung gibt? An demjenigen Gericht, das in der Gerichtsstandsvereinbarung bezeichnet ist, sollte die richtige Antwort sein. Diese Antwort zieht der EuGH in der Rechtssache Ryanair jedoch in Zweifel – jedenfalls dann, wenn der Rechtsstreit nicht zwischen den ursprünglichen Parteien, sondern nach Abtretung zwischen dem Zessionar und dem Schuldner geführt wird.

1. Worum ging es?

Die Gesellschaft DelayFix mit Sitz in Warschau zieht Forderungen von Fluggästen ein, die diese aufgrund von Flugverspätungen oder Flugannullierungen haben. DelayFix ließ sich eine Forderung eines Fluggastes gegen Ryanair mit Sitz in Dublin abtreten. Die in den Beförderungsvertrag einbezogenen AGB von Ryanair enthielten eine Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten irischer Gerichte. Nachdem mit DelayFix kein Verbraucher klagte, berief sich Ryanair darauf, dass das von DelayFix angerufene polnische Gericht aufgrund der (grundsätzlich wirksamen) Gerichtsstandsvereinbarung unzuständig sei.

2. Wie entschied der EuGH?

Der EuGH entschied: Nach Art. 25 Brüssel Ia-VO kann sich Ryanair gegenüber DelayFix nicht auf eine mit dem Fluggast abgeschlossene Gerichtsstandsvereinbarung berufen, weil DelayFix dieser nicht zugestimmt habe.
Gerichtsstandsvereinbarungen können einem Dritten nur dann entgegenhalten werden, wenn der Dritte in alle Rechte und Pflichten der ursprünglichen Vertragspartei eingetreten sei. Diese Rechtsprechung eröffnet Möglichkeiten – oder verursacht Unsicherheit, je nach Perspektive.

Einerseits bestehen nach dem Urteil Zweifel, ob eine gewollte, günstige Gerichtsstandsvereinbarung tatsächlich uneingeschränkte Anwendung findet, also ein „Heimspielrecht“ besteht. Das hat große praktische Bedeutung: So bieten mittlerweile Klägerkanzleien und Prozessfinanzierer bei jedem größeren Schadensereignis Verbrauchern und Unternehmern die Durchsetzung ihrer Ansprüche mittels Klagevehikeln an. An diese Klagevehikel sind die durchzusetzenden Ansprüche typischerweise abzutreten, wodurch eine eigentlich geschlossene Gerichtsstandsvereinbarung möglicherweise plötzlich ins Leere geht. Vereinbart etwa ein deutsches Unternehmen mit seinen französischen Vertragspartnern (bspw. Importeuren, Zwischenhändlern oder unter Beachtung von Art. 19 Brüssel Ia-VO auch Verbrauchern) eine Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten deutscher Gerichte und treten diese Vertragspartner ihre Ansprüche an ein Klagevehikel ab, könnten Klagen von diesem Klagevehikel abweichend von der Gerichtsstandsvereinbarung ggf. außerhalb Deutschlands erhoben werden.

Andererseits ist möglicherweise die Bindung an eine lästige Gerichtsstandsvereinbarung nicht so fest wie angenommen; die Reise zu einem „Auswärtsspiel“ muss ggf. nicht angetreten werden.



III. Auswirkungen auf die Praxis

Auch nach der Entscheidung in der Rechtssache Ryanair können sich Dritte jedoch nicht in jeder Konstellation auf die fehlende Bindung an die Gerichtsstandsklausel berufen; vielmehr knüpft der EuGH dies an bestimmte Voraussetzungen (dazu 1.). Aus der „Auswärtsniederlage“ von Ryanair lassen sich darüber hinaus möglicherweise Lehren für die Vertragsgestaltung (dazu 2.) sowie für die Prozessstrategie (dazu 3.) ziehen.

1. Voraussetzungen für das Nichteingreifen einer Gerichtsstandsvereinbarung

Dem Urteil des EuGH lassen sich folgende Voraussetzungen entnehmen, wann eine Gerichtsstandsvereinbarung gegenüber einem Dritten nicht gilt:

Erstens muss es sich um einen europäisch-internationalen Sachverhalt handeln, damit Art. 25 Brüssel Ia-VO anwendbar ist – ein rein deutscher Fall reicht nicht aus. Ein rein nationaler Fall wird allerdings wohl schon dann zu einem internationalen Fall, wenn eine Partei entgegen einer Gerichtsstandsvereinbarung in einem anderen Mitgliedsstaat klagt.

Zweitens muss festgestellt werden, ob der Dritte in alle Rechte und Pflichten der ursprünglichen Partei eintritt. Wenn das der Fall ist, ist er auch an die Gerichtsstandsvereinbarung gebunden. Diese Prüfung überlässt der EuGH dem mit der Sache befassten Gericht, ohne hierfür eine Hilfestellung zu geben. Im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung und Literatur in Deutschland wird man das annehmen dürfen (i) bei einer Gesamtrechtsnachfolge, (ii) bei einer Schuldübernahme, aber (iii) nicht bei einem bloßen Schuldbeitritt und (iv) nach dem EuGH nunmehr auch nicht (ohne Weiteres) bei einer bloßen Abtretung.

Für diese Prüfung muss bestimmt werden, nach welchem Recht die Frage zu beantworten ist, ob der Dritte in alle Rechte und Pflichten eingetreten ist. Bislang gingen Literatur wie EuGH davon aus, das in der Sache anwendbare Recht sei maßgeblich – also die sog. lex causae. Im Ryanair- Urteil führt der EuGH nun allerdings aus, dass die Frage „nach den Rechtsvorschriften des Staates, dessen Gerichte in dieser Klausel bestimmt sind“ zu beantworten ist – also nach der sog. lex fori prorogati. Es kann sich dabei aber nur um ein Versehen handeln, weil er in derselben Entscheidung gerade auf seine bisherige Rechtsprechung und das „in der Sache anwendbare nationale Recht“ (Rn. 47) verweist.

2. Auswirkungen auf die Vertragsgestaltung

Da die Ryanair-Rechtsprechung das Risiko einer strategischen Abtretung und damit die Verlegung des „Austragungsortes“ eröffnet, empfiehlt es sich, Gerichtsstandsvereinbarungen durch Vertragsgestaltung abtretungssicher zu machen.

Zu denken ist insofern insbesondere an folgende Möglichkeiten, die in diesem Briefing aber nur angeschnitten werden können:

  • Abtretungsverbote – diese unterliegen aber einerseits der Einschränkung durch § 354a HGB und erstrecken sich andererseits nicht ohne Weiteres auf deliktische Ansprüche, die dem Vertragspartner ggf. (auch konkurrierend zu vertraglichen Ansprüchen) zustehen;

  • vertragsstrafenbewehrte Verpflichtung des Vertragspartners, Ansprüche aus oder im Zusammenhang mit dem Vertrag nur mit der Maßgabe abzutreten, dass sich der Zessionar an die Gerichtsstandsvereinbarung hält;

  • Vereinbarung eines Schiedsverfahrens statt einer Gerichtsstandsvereinbarung;

  • ggf. Vereinbarung der Zuständigkeit von Gerichten eines Nicht-EU-Staates (nunmehr etwa das Vereinigte Königreich), da die Brüssel Ia-VO in diesem Verhältnis nicht anwendbar ist – zu beachten ist aber, dass Entscheidungen aus Nicht-EU-Staaten nicht in den Genuss der erleichterten europäischen Anerkennungs- und Vollstreckungsregeln kommen, sodass die anschließende Vollstreckung zeit- und kostenaufwändiger werden kann.


3. Auswirkungen auf die Prozessstrategie

Spiegelbildlich können sich für einen Kläger bislang unerkannte Möglichkeiten eröffnen, um nicht an einem unbeliebten Gerichtsstand klagen zu müssen. Insbesondere können abhängig von den Besonderheiten des Einzelfalls folgende Erwägungen in die Prozessstrategie einbezogen werden:

  • bei bereits ursprünglich europäisch-internationalen Sachverhalten: Abtretung der Forderung an ein (ggf. neu zu gründendes) Tochterunternehmen oder einen Dritten;

  • bei (zunächst) reinen Inlandsfällen: Abtretung der Forderung an ein (ggf. neu zu gründendes) Tochterunternehmen oder einen Dritten —im Ausland —oder im Inland mit nachfolgender Klage im Ausland;

  • eine entsprechende Teilabtretung von Ansprüchen zur Geltendmachung der Ansprüche in mehreren Foren zur Risikostreuung.


Bei der Bewertung der jeweiligen Situation unterstützen wir gerne – sprechen Sie uns an!

Freshfields - Heim- oder Auswärtsspiel – „Halten“ Gerichtsstandsvereinbarungen im Lichte aktueller EuGH-Rechtsprechung noch
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