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Briefing

Arbeitsrecht und Gaskrise: Wer trägt das Entgeltrisiko eines Arbeitsausfalls aufgrund von Energieengpässen

I. Einleitung

Die vor allem durch den Krieg in der Ukraine ausgelöste Gaskrise spitzt sich weiter zu und stellt die europäische und insbesondere deutsche Wirtschaft vor Herausforderungen. Die Wiederaufnahme der Gaslieferungen durch die Pipeline Nordstream 1 ändert hieran wenig; spätestens seit der Ankündigung, dass nur noch ca. 20 Prozent der zuvor üblichen Gasmenge durch die Pipeline fließen, bestehen erhebliche Zweifel daran, wie verlässlich die Lieferungen fortan noch sind. Vor allem die Industrie muss mit erheblichen Einschnitten rechnen, weil einerseits die Energiekosten steigen und sogar eine Abschaltung oder Drosselung der Gasversorgung für Unternehmen außerhalb der kritischen Infrastruktur droht. Um sich für den Fall eines Gaslieferstopps zu wappnen, wurden bislang vorrangig energiepolitische Debatten geführt. Einige Unternehmen avisieren den Umstieg auf andere Energieträger wie Kohle und Öl oder haben eigene Notfallpläne hinsichtlich der Auslastung ihrer Produktionsstätten ausgearbeitet. Im Zuge dessen rücken zunehmend auch arbeitsrechtliche Risiken, aber auch Handlungsoptionen in den Fokus, denn eine Zuspitzung der Gaskrise könnte sowohl für Arbeitnehmer als auch für Arbeitgeber weitreichende Folgen haben. Was die wichtigsten krisenarbeitsrechtlichen Aspekte sind und was es zu beachten gilt, beleuchten wir in den nächsten Wochen in einer Beitragsreihe. Der erste Blogpost widmet sich der Frage, ob Arbeitgeber auch dann, wenn es zu staatlichen Einschränkungen der Gasversorgung kommen sollte und deshalb z.B. die Produktion eingestellt werden muss, weiterhin verpflichtet sind, das Entgelt für ihre Beschäftigten zu zahlen.

II. Gasversorgung nach dem Notfallplan Gas

Ob und wie die Gasversorgung in einer Krisensituation in Deutschland erfolgt, richtet sich nach dem Notfallplan Gas, der vom Bundeswirtschaftsministerium in Zusammenarbeit mit der Gaswirtschaft und der Bundesnetzagentur erstellt wurde. Dieser beinhaltet drei Eskalationsstufen: die Frühwarnstufe, die Alarmstufe und die Notfallstufe. Jede Stufe beinhaltet eigene konkrete Maßnahmen, die dazu dienen, die Versorgung sicherzustellen. Ende Juni 2022 hat das Wirtschaftsministerium bereits die zweite Stufe, die Alarmstufe, ausgerufen. Reichen die einschlägigen netz- und marktbasierten Maßnahmen der Alarmstufe nicht mehr zur Deckung der Gasnachfrage aus, ruft das Ministerium die Notfallstufe aus. Die Bundesnetzagentur wird dann zum sog. Bundeslastverteiler und entscheidet in Abstimmung mit den Netzbetreibern, wie das noch vorhandene Gas verteilt wird. Kürzungen oder gar Abschaltungen von Letztverbrauchern erfolgen in folgender Reihenfolge: nicht geschützte Kunden, systemrelevante Gaskraftwerke und geschützte Kunden. Eine Reihenfolge bei der Abschaltung von Industrieformen gibt es (bisher) nicht, vielmehr soll eine Abwägung im Einzelfall anhand bestimmter Kriterien vorgenommen werden; hierzu zählen unter anderem die Dringlichkeit der Maßnahme, Größe der Anlage, Vorlaufzeit zur Gasbezugsreduktion, volks- und betriebswirtschaftliche Schäden, Kosten und Dauer der Wiederinbetriebnahme nach einer Gasversorgungsreduktion sowie die Bedeutung für die Versorgung der Allgemeinheit.

III. Wer trägt das Entgeltrisiko eines Arbeitsausfalls aufgrund von Energieengpässen?

Für Arbeitgeber stellt sich vor diesem Hintergrund die drängende Frage, ob sie weiterhin zur Entgeltfortzahlung verpflichtet sind, sollten sie infolge der Abschaltung der Gaszufuhr bei Ausrufen der Notfallstufe zur Schließung oder Einschränkung ihres Betriebs gezwungen sein. Bekanntlich gilt der Grundsatz „Ohne Arbeit kein Lohn“ gem. § 615 S. 3 BGB nicht, wenn der Arbeitgeber das Betriebsrisiko zu tragen hat. Das Betriebsrisiko adressiert die Frage, ob der Arbeitgeber zur Lohnfortzahlung verpflichtet ist, wenn er auch ohne eigenes Verschulden die Belegschaft aus betriebstechnischen Gründen nicht beschäftigen kann.

1. Wann besteht ein Betriebs- und wann ein Individualrisiko?

Durch die Betriebsrisikolehre werden ökonomische Risiken verteilt. Ansatzpunkt ist, dass Risiken bei dem zu verorten sind, der die Realisierung des Risikos am besten beherrschen bzw. für den nicht beherrschbaren Risikoeintritt Vorsorge treffen kann. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts trägt der Arbeitgeber demnach das Betriebsrisiko, weil er den Betrieb leitet, betriebliche Abläufe organisiert und die Erträge bezieht. Dementsprechend fallen Störungen des Betriebsablaufs, die in seinem Einflussbereich liegen, regelmäßig in seine Risikosphäre, mit der Folge, dass er das Entgeltrisiko zu tragen hat. Darüber hinaus trägt er auch das Risiko für von außen einwirkende Umstände, die sich als höhere Gewalt darstellen, z.B. für Überschwemmungen und Brände, aber etwa auch für den Ausfall der Ölheizung im Betrieb wegen eines plötzlichen Kälteeinbruchs oder einen Stromausfall aufgrund einer Störung im Elektrizitätswerk.

Solange Gas am Markt noch frei verfügbar ist, der Arbeitgeber jedoch aufgrund der gestiegenen Energiepreise gezwungen ist, seinen Betrieb zu schließen oder einzuschränken, verwirklicht sich das vom Arbeitgeber zu tragende Betriebsrisiko. Wie liegt aber der Fall, wenn der Arbeitgeber aufgrund einer hoheitlichen Maßnahme kein Gas mehr erwerben kann – ihm also staatlicherseits der Gashahn abgedreht wird?

2. Behördliche Betriebsschließungen als Betriebsrisiko (BAG v. 13.10.2021 - 5 AZR 211/21)

Erste Stimmen sprechen sich bereits dafür aus, die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zur behördlichen Betriebsschließung während der Corona-Pandemie auch auf Fälle der Abschaltung der Gaszufuhr durch öffentlich-rechtliche Allgemeinverfügung zu übertragen. In dem Ursprungsfall wurde das Ladengeschäft des Arbeitgebers im April 2020 durch behördliche Allgemeinverfügung geschlossen. Die Arbeitnehmerin konnte daher nicht arbeiten und erhielt auch keine Vergütung. Sie klagte sodann ihr Entgelt für den Monat April ein. Mit Entscheidung vom 13. Oktober 2021 lehnte der fünfte Senat den Vergütungsanspruch der Arbeitnehmerin für den Zeitraum der angeordneten Betriebsschließung ab, da sich in dieser kein Betriebsrisiko verwirkliche. Seine Entscheidung begründete das BAG mit dem Zweck der behördlichen Maßnahme. Erfolge die behördlich verfügte Betriebsschließung im Rahmen allgemeiner Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung und – betriebsübergreifend – zum Schutz der Bevölkerung, realisiere sich gerade nicht das in einem bestimmten Betrieb angelegte Risiko. Die Unmöglichkeit der Arbeitsleistung sei in diesem Fall vielmehr Folge des hoheitlichen Eingreifens zur Bekämpfung einer die Gesellschaft insgesamt treffenden Gefahrenlage, die der einzelne Arbeitgeber nicht – auch nicht im weitesten Sinne – verursacht und zu verantworten habe.

3. Wohl keine Übertragbarkeit des Urteils bei Betriebsschließung im Zusammenhang mit der Gaskrise

Direkte Rückschlüsse auf die Situation der Gaskrise sollten indes nicht vorschnell gezogen werden. Auch wenn Teile der Entscheidungsgründe auf die aktuell im Raum stehende öffentlich-rechtlich verfügte Abschaltung der Gaszufuhr übertragbar sein könnten, birgt diese Konstellation den grundlegenden Unterschied in sich, dass eine Betriebsschließung anders als eine behördlich verfügte Betriebsschließung im Rahmen der Corona-Pandemie nur mittelbare Folge der hoheitlichen Maßnahme wäre. Eine Betriebsschließung würde lediglich faktisch herbeigeführt, indem Arbeitgeber ohne die erforderliche Gaszufuhr (wirtschaftlich) nicht in der Lage wären, ihren Betrieb fortzuführen.

Wollte man die Aussagen des BAG zur behördlichen Betriebsschließung während der Corona-Pandemie dennoch auf mögliche Betriebsschließungen im Zuge der Gaskrise übertragen, wäre dennoch Vorsicht geboten: Beinahe beiläufig weist der fünfte Senat in seiner Entscheidung darauf hin, dass der Arbeitgeber trotz fehlender Verwirklichung des Betriebsrisikos verpflichtet ist, finanzielle Nachteile für die Belegschaft abzumildern und von zur Verfügung stehenden Instrumenten (insbesondere Kurzarbeit) Gebrauch zu machen. Anderenfalls könnte er sich gegenüber den Arbeitnehmern schadenersatzpflichtig machen. Im konkreten Fall kam es darauf indes nicht an, weil die Arbeitnehmerin geringfügig beschäftigt war und deshalb ein Anspruch auf Kurzarbeitergeld ausschied. Wie weit genau die Handlungspflichten des Arbeitgebers bei Möglichkeit zur Einführung von Kurzarbeit aber reichen, reißt das BAG jedoch, auch in einer ähnlich gelagerten Entscheidung vom 4. Mai 2022 (Az. 5 AZR 366/21), nur an. Es bestehe zwar keine Verpflichtung zur – einseitig für den Arbeitgeber grundsätzlich nicht möglichen – Einführung von Kurzarbeit. Es kann jedoch festgehalten werden, dass das BAG die Einführung von Kurzarbeit als grundsätzlich vorrangig ansieht und vom Arbeitgeber verlangt, aktiv zu werden und auf den Betriebsrat und, wenn ein solcher nicht besteht, auf den einzelnen Arbeitnehmer zuzugehen, um über die Einführung von Kurzarbeit zu verhandeln. Nur wenn diese nicht in Betracht kommt oder sich (z.B. mangels Mitwirkung des Betriebsrats) als nicht durchführbar erweist, kann mit dem Entfall des Vergütungsanspruchs argumentiert werden.

IV. Hinweis auf folgende Blogposts

Arbeitgebern ist zu raten, sich frühzeitig Gedanken auch über arbeitsrechtliche Risiken aufgrund mangelnder drohender Gasknappheit zu machen und wie die Folgen für das Unternehmen und die Beschäftigten bestmöglich abgefedert werden können. Erste Unternehmen erwägen beispielsweise bereits, im Herbst und Winter vorübergehend wieder mehr Homeoffice einzuführen, um die Temperatur in den Büros zu reduzieren und so Gas sparen zu können. Auch wurde bereits die Idee, Betriebsferien über Weihnachten einzuführen, diskutiert. Daneben ist noch eine Vielzahl an weiteren Maßnahmen denkbar, wobei stets auch eine frühzeitige Einbindung des Betriebsrats bedacht werden sollte. Welche Maßnahmen dies sind und was es dabei zu beachten gilt, ist bereits das Thema unseres nächsten Blogposts.

Wenn die Gaskrise z.B. zu Einschränkungen oder gar zur Einstellung des Betriebs führen kann, sollten schon jetzt Vorkehrungen für den Fall getroffen werden, dass es Arbeitgebern nicht oder nur noch eingeschränkt möglich ist, ihre Beschäftigten weiterzubeschäftigen. Kurzarbeit hat sich im Zuge der Corona-Pandemie dabei als überaus wirksames Mittel zur Krisenbewältigung erwiesen. Die Einführung von Kurzarbeit sollte jedoch sorgfältig und in Abstimmung mit dem Betriebsrat gestaltet werden. Auch sollten Arbeitgeber bereits im Zuge der Einführung der Kurzarbeit Perspektiven für die Zeit nach der Kurzarbeit schaffen, etwa durch staatlich geförderte Maßnahmen zur Weiterbildung in der Phase der Kurzarbeit, Festlegung betrieblicher Urlaubsgrundsätze, Nutzung von Arbeitszeitkonten oder Personalpartnerschaften mit anderen Unternehmen. Der Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen ist unabhängig von allen rechtlichen Aspekten meist schon deshalb „ultima ratio“, um zu vermeiden, dass dem Unternehmen das für die Zeit nach der Krise dringend benötigte Personal oder Know-how (wie aktuell etwa in der Gastronomie- oder Luftfahrtbranche) verloren geht.

Briefing Freshfields Bruckhaus Deringer - Arbeitsrecht und Gaskrise - Wer trägt das Entgeltrisiko eines Arbeitsausfalls aufgrund von Energieengpässen
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