Briefing
Einführung des neuen Leitentscheidungsverfahrens beim BGH – Entlastung der Justiz und Effizienzsteigerungen in Massenverfahren?
Der Bundesrat plant am Donnerstag, dem 18. Oktober 2024, das bereits vom Bundestag verabschiedete Gesetz zur Einführung eines neuen Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof (BGH) zu beschließen. Im Folgenden stellen wir das neue Leitentscheidungsverfahren im Detail vor und beleuchten die tatsächlich in der Praxis zu erwartenden Auswirkungen.
I. Hintergrund des neuen Gesetzes
Die hohe Belastung der deutschen Justiz durch Massenverfahren ist seit längerem ein Thema, das die Politik beschäftigt. Die Ampel-Regierung hatte bei ihrem Amtsantritt versprochen, Maßnahmen zur Abhilfe des Problems umzusetzen. Aus diesem Anlass wurde von der Bundesregierung ein neues Verfahren – das Leitentscheidungsverfahren beim BGH – vorschlagen. Der Bundestag beschloss das Gesetz zur Einführung des Leitentscheidungsverfahren beim BGH am 26. September 2024. Nachdem es den Bundesrat passiert hat, wird es am Tag nach der Verkündung in Kraft treten. Die Gesetzesnovelle soll die Gerichte entlasten, indem bei Massenverfahren die maßgeblichen Rechtsfragen als Leitentscheidungen durch den BGH geklärt werden können. Als Beispiele für Massenverfahren nennt die Gesetzesbegründung neben den Dieselfällen unzulässige Klauseln in Fitnessstudio-, Versicherungs- oder Bankverträgen. Mit ungefähr 25 solcher Leitentscheidungen im Jahr rechnet die Regierung und geht von einem Rückgang in Millionenhöhe bei den jährlich gezahlten Gerichts- und Rechtsanwaltsgebühren aus.
Treiber für das Gesetz ist der Eindruck, dass die Parteien teilweise höchstrichterliche Entscheidungen des BGH verhindert hätten. Dies trifft keinesfalls nur den Fall eines beidseitigen Vergleichs. In der jüngsten Vergangenheit haben oft Kläger ihre Revisionen zurückgenommen, um eine höchstrichterliche Klärung zu verhindern. Es ist zu vermuten, dass die beteiligten Klägerkanzleien Sorge vor einer abweisenden BGH-Entscheidung hatten. Denn eine solche würde es den Rechtsschutzversicherungen erlauben, die Deckung für neue, dann offensichtlich unbegründete Klagen oder für Rechtsmitteleinlegungen zu versagen. Dies würde dem Geschäftsmodell der Klägerkanzleien für die Klageserie den Boden entziehen.
II. Das neue Leitentscheidungsverfahren des BGH
Die zivilprozessualen Neuerungen sehen vor, dass der BGH künftig aus bereits anhängigen Revisionen in Massenverfahren ein geeignetes Verfahren auswählen und zum Leitentscheidungsverfahren bestimmen kann (§ 552b ZPO). In diesem Verfahren soll der BGH ein möglichst breites Spektrum von Rechtsfragen entscheiden können, deren Identifizierung ihm obliegt. Für die Bestimmung sieht das Gesetz den Zeitpunkt nach Eingang der Revisionserwiderung oder nach Ablauf eines Monats nach Zustellung der Revisionsbegründung vor.
Setzen die Parteien das Leitentscheidungsverfahren fort, endet das Verfahren durch ein reguläres Revisionsurteil mit inhaltlicher Begründung. Kommt es hingegen zu einer alternativen Verfahrensbeendigung, etwa durch Revisionsrücknahme oder Vergleich, entscheidet der BGH in Form einer Leitentscheidung (§ 565 ZPO n.F.). Diese ergeht als Beschluss ohne mündliche Verhandlung und beschränkt sich auf die Klärung der für das Massenverfahren maßgeblichen Rechtsfragen. In der Begründung der Leitentscheidung ist darzulegen, wie unter Berücksichtigung des zugrundeliegenden Sachverhalts die Entscheidung über die maßgebliche Rechtsfrage oder die maßgeblichen Rechtsfragen gelautet hätte. Der BGH entscheidet also auch dann, wenn die Parteien das Verfahren in Ausübung ihrer prozessualen Dispositionsbefugnis einer gerichtlichen Sachentscheidung letztlich entziehen. Die Leitentscheidung hat keine Auswirkungen auf das konkrete Revisionsverfahren und entfaltet keine Bindungswirkung für die Instanzgerichte. Sie soll vielmehr in Parallelverfahren als Richtschnur und Orientierungshilfe dienen und aufzeigen, wie die Entscheidung der Rechtsfragen ausgefallen wäre.
Die bei den Instanzgerichten anhängigen Parallelverfahren können angesichts eines beschlossenen Leitentscheidungsverfahrens bis zur Entscheidung des BGH ausgesetzt werden. Dies regelt der neu eingeführte § 148 Abs. 4 ZPO. Hierzu ist eine Anhörung der Parteien, nicht aber deren Zustimmung erforderlich. Eine Fortsetzung soll nur dann möglich sein, wenn eine Partei der Aussetzung widerspricht und gewichtige Gründe glaubhaft macht, die einer Aussetzung entgegenstehen. Gegen die Aussetzungsentscheidung des Gerichts kann das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde eingelegt werden. Nach Ablauf eines Jahres ist das Verfahren auf Antrag einer Partei fortzusetzen, wenn nicht gewichtige Gründe entgegenstehen.
III. Womit müssen Mandanten rechnen?
Wird es tatsächlich zu einer Entlastung kommen?
Zunächst ist es sehr fraglich, ob die von der Bundesregierung erwartete Entlastung der Gerichte tatsächlich in dieser Form eintreten wird. Dagegen spricht zum einen, dass das Verfahren erst in der Revisionsinstanz greift. Erfahrungsgemäß dauert es mehrere Jahre, bis ein Verfahren die Instanzen durchlaufen hat und in die dritte Instanz gelangt. Einer Flut von erstinstanzlichen Einzelklagen kann das neue Leitentscheidungsverfahren somit nicht entgegenwirken, weil die Leitentscheidung erst mehrere Jahre nach Beginn der Klagewelle ergehen kann. Zum anderen bleibt Raum für prozesstaktische Überlegungen zur Vermeidung einer Leitentscheidung, schließlich kann der BGH das Verfahren erst nach Eingang der Revisionserwiderung oder einen Monat nach Zustellung der Revisionsbegründung zu einem Leitentscheidungsverfahren erklären. Beide Seiten eines Massenverfahrens werden daher schon in der Berufungsinstanz erwägen, ob sie das Verfahren überhaupt in die Revisionsinstanz kommen lassen wollen.
Der Gesetzgeber hat sich nicht für ein den Instanzenzug verkürzendes Vorabentscheidungsverfahren – ähnlich dem Vorlageverfahren beim EuGH – oder eine Ausweitung der Sprungrevision entschieden. Die CDU/CSU-Fraktion hatte sich unter anderem hierfür in einem Entschließungsantrag ausgesprochen. Der Rechtsausschuss hat diesen Vorschlag diskutiert, aber nicht in das laufende Gesetzgebungsverfahren aufgenommen, weil die dafür notwendigen Änderungen der Zivilprozessordnung es erforderlich gemacht hätten, Wissenschaft und Praxis in einem geordneten Verfahren einzubinden und anzuhören. Damit muss weiterhin eine Reihe von Einzelverfahren den ordentlichen Instanzenzug durchlaufen, bis der BGH aus den bereits anhängigen Revisionen ein Verfahren priorisieren kann. Eine Beschleunigung und Entlastung der Gerichte ist daher bis zu diesem Zeitpunkt, der in der Regel mehrere Jahre nach Beginn der erstinstanzlichen Klageflut liegen dürfte, nicht zu erwarten.
Geht eine Bindungswirkung von einer Leitentscheidung aus?
Nein, die Entscheidung des BGH bindet nicht die Gerichte, bei denen parallel gleich gelagerte Verfahren anhängig sind. Vielmehr soll die Entscheidung als Richtschnur dienen und Signalwirkung entfalten. Potenzielle Kläger sollen durch die höchstrichterliche Entscheidung besser abschätzen können, wie hoch die Erfolgsaussichten einer Klage sind. Inwieweit eine solche Entscheidung tatsächlich sämtliche entscheidungsrelevanten Fragen klären kann, ist jedoch ungewiss. Schließlich lässt sich häufig von Seiten der Parteien und deren Vertretern argumentieren, dass sich der konkrete Einzelfall von dem Leitentscheidungsszenario unterscheide und daher eine abweichende Entscheidung erforderlich sei. Im Zusammenhang mit den Dieselfällen bedurfte es auch nach der sog. Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs vom 25. Mai 2020 (VI ZR 252/19) noch einer Vielzahl an höchstrichterlichen Entscheidungen, um die doch divergierende Bandbreite an Konstellationen zu klären.
Wegen der großen Ausstrahlungswirkung einer Leitentscheidung auf Parallelverfahren hatte die BRAK vorgeschlagen, dass die Parteien der anderen gleichgelagerten und andauernden Verfahren die Gelegenheit haben sollten, vor einer Leitentscheidung gehört zu werden. Dies würde den Parteien, die weiterhin ein Interesse am Ausgang des Leitentscheidungsverfahrens haben, die Möglichkeit einräumen, ihre Argumente vor dem BGH vorzutragen. Es erstaunt nicht, dass der Gesetzgeber diesen Vorschlag übergangen hat. Denn zum einen gibt es auch heute ohne Leitentscheidungsverfahren schon Entscheidungen des BGH, denen faktisch die Bedeutung einer Leitentscheidung zukommt, ohne dass die Parteien aus gleichgelagerten Verfahren Gehör gewährt werden müsste. Zum anderen versucht der Gesetzgeber auch in anderen Verfahrensarten die Anzahl der Beteiligten zur Beschleunigung und besseren Handhabbarkeit der Verfahren zu reduzieren. So sieht beispielsweise die aktuelle Novelle des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes vor, die in der Regel erhebliche Anzahl der Beigeladenen des Musterverfahrens, die bisher schriftsätzlich Stellung nehmen konnten, durch prozessuale Änderungen maßgeblich zu reduzieren.
Bedenklich ist hingegen, dass eine Leitentscheidung ergehen kann, ohne dass die Revisionsgegnerin überhaupt gehört werden muss. Wenn z.B. die Revisionsführerin nach Einreichung der Revisionsbegründung die Revision zurücknimmt und damit das Ausgangsverfahren beendet, ist nicht ausdrücklich vorgesehen, dass die Revisionsgegnerin in dem anschließenden Leitentscheidungsverfahren noch eine Stellungnahme einreichen kann oder eine mündliche Verhandlung stattfindet, in der sie gehört wird. Allerdings wird in der Gesetzesbegründung der Fall erörtert, dass eine Ermäßigung der RVG-Gebühr für die Revisionsinstanz nicht eintritt, wenn die Rechtsanwältin oder der Rechtsanwalt keine Revisionserwiderung, sondern erst im Leitentscheidungsverfahren eine Stellungnahme abgibt. Dies spricht dafür, dass der BGH eine solche Stellungnahme für seine Beschlussfassung auch berücksichtigen muss. Eine mündliche Verhandlung findet jedoch in dieser Konstellation auf keinen Fall statt. Dies ist bedauerlich, da sie den Parteien ermöglichen würde, Argumente vorzubringen, die der BGH bei der Bildung seiner vorläufigen Rechtseinschätzung nicht bedacht hat. Selbst wenn dies nicht immer etwas am Ausgang des Verfahrens ändern mag, führt ein solcher Austausch in der mündlichen Verhandlung in der Regel zu einer besser begründeten Entscheidung.
Wie wird sich ein Leitentscheidungsverfahren voraussichtlich auf unterinstanzliche Verfahren auswirken?
Das Gesetz sieht die Möglichkeit vor, Verhandlungen auf unterinstanzlicher Ebene bis zur Erledigung des Leitentscheidungsverfahrens auszusetzen. Die Aussetzungsentscheidung setzt eine vorherige Anhörung der Parteien voraus, steht aber im Übrigen im Ermessen des Gerichts. Sie kann nach § 252 ZPO mit der sofortigen Beschwerde angegriffen werden. Ansonsten könnten die Parteien erst ein Jahr nach der Aussetzung einen Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens stellen. Damit stellt sich die Aussetzung als Gegenentwurf zum Ruhen des Verfahrens nach § 251 ZPO dar, das lediglich auf Antrag beider Parteien bei laufender höchstrichterlicher Klärung in einem Parallelprozess vom Gericht anzuordnen ist und jederzeit wieder von den Parteien aufgenommen werden kann.
Die Aussetzungsregelung war im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens umstritten. Während der Referentenentwurf die Aussetzung noch unter den Zustimmungsvorbehalt beider Parteien stellte, wurde dies auf Empfehlung des Rechtsausschusses geändert. Nunmehr müssen die Parteien lediglich angehört werden, das Gericht kann die Aussetzung jedoch selbst anordnen. Die BRAK hatte sich für ein Zustimmungserfordernis ausgesprochen, damit die betroffenen Parteien nicht eine verzögerte Erledigung ihres Verfahrens hinnehmen müssten. Zudem könne es für den BGH von Vorteil sein, Erkenntnisse und Argumente aus den gewechselten Schriftsätzen in gleich gelagerten Revisions- und Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren für seine Leitentscheidung verwerten zu können.
Sofern die Klage bereits aus anderen Gründen abweisungsreif ist, sollte eine Aussetzung nicht in Betracht kommen und die Klage abgewiesen werden. Der Wortlaut des § 148 Abs. 4 ZPO n.F. bringt klar zum Ausdruck, dass die Anordnung der Aussetzung voraussetzt, dass „die Entscheidung des Rechtsstreits von Rechtsfragen abhängt, die den Gegenstand eines bei dem Revisionsgericht anhängigen Leitentscheidungsverfahrens bilden.“ Insoweit kann auch auf die Parallelwertung des § 8 KapMuG a.F. (2012) abgestellt werden, wonach eine Aussetzung nur dann legitim ist, wenn der Rechtsstreit nicht auf anderem Wege entschieden werden kann (vgl. BGH Beschl. v. 30.4.2019 – XI ZB 13/18). Dies gebietet das Gebot des effektiven Rechtsschutzes.
Welche gesetzgeberischen Entwicklungen sind darüber hinaus von Bedeutung?
Eine weitere gesetzgeberische Maßnahme zur besseren Bewältigung von Massenklagen ist die ebenfalls in dieser Legislaturperiode eingeführte Abhilfeklage. Diese findet bereits auf erstinstanzlicher Ebene Anwendung und besitzt damit das größere Potenzial, Massenklagen zu unterbinden, indem stattdessen eine Kollektivklage durch qualifizierte Einrichtungen geführt wird. Auch soll die Verfahrensführung insgesamt effizienter gestaltet werden. So sollen für Streitigkeiten, die Zahlungsklagen in der Zuständigkeit der Amtsgerichte betreffen, ab Januar 2025 Onlineverfahren möglich sein. Zudem hat der Gesetzgeber auch die Möglichkeiten für die virtuelle Teilnahme an mündlichen Verhandlungen und Beweisaufnahmen erheblich erweitert.