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Briefing

Der deutsche „Notfallplan Gas“ – Risiken und Entschädigungsregeln für Industriekunden und Gasversorger

55 Prozent des in den vergangenen Jahren in Deutschland verbrauchten Erdgases stammt aus Russland. Aufgrund der Ukraine-Krise unternimmt die Bundesregierung erhebliche Anstrengungen, um diese Abhängigkeit zu reduzieren. Die Bundesregierung erwartet indes, dass eine Gasunabhängigkeit von Russland frühestens Mitte 2024 erreicht werden kann. Sollten die Lieferungen aus Russland – sei es aufgrund eines europäischen Embargos oder aufgrund eines russischen Boykotts – eingestellt werden, dürfte in Deutschland eine akute Versorgungskrise eintreten, die insbesondere erdgasintensive Industrieunternehmen mit erheblichen Produktionsausfallrisiken konfrontiert (z.B. Hersteller von Chemikalien, Düngemitteln, Nahrungsmitteln, Stahl, Aluminium, Glas, Keramik, Papier).

Die Reaktion der Bundesregierung auf eine Erdgaskrise ist durch den „Notfallplan Gas“ (zuletzt aktualisiert im September 2019) teilweise vorgegeben. Dieser beruht auf Artikel 11 der Verordnung (EU) 2017/1938 (sog. SoS-VO) und sieht drei Eskalationsstufen vor.

A. Die Frühwarn- und Alarmstufe

Die beiden ersten Eskalationsstufen sind die sog. Frühwarn- und Alarmstufe:

  • Die Frühwarnstufe ist wie folgt definiert: „Es liegen konkrete, ernst zu nehmende und zuverlässige Hinweise darauf vor, dass ein Ereignis eintreten kann, welches wahrscheinlich zu einer erheblichen Verschlechterung der Gasversorgungslage sowie wahrscheinlich zur Auslösung der Alarm- bzw. der Notfallstufe führt; die Frühwarnstufe kann durch ein Frühwarnsystem ausgelöst werden.“ Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) hat die Frühwarnstufe am 30.3.2022 ausgerufen.
  • Die Alarmstufe definiert der Gesetzgeber folgendermaßen: „Es liegt eine Störung der Gasversorgung oder eine außergewöhnlich hohe Nachfrage nach Gas vor, die zu einer erheblichen Verschlechterung der Gasversorgungslage führt; der Markt ist aber noch in der Lage, diese Störung oder Nachfrage zu bewältigen, ohne dass nicht-marktbasierte Maßnahmen ergriffen werden müssen.“ Die Alarmstufe wurde bislang noch nicht aktiviert.

Die Konsequenzen der Ausrufung der Früh- und Alarmstufe sind ähnlich gelagert.

  • So werden die Fernleitungsnetzbetreiber beispielsweise verpflichtet, mindestens einmal täglich eine schriftliche Lageeinschätzung an das BMWK abzugeben. Die Gasversorgungsunternehmen müssen die Lagebewertung durch das BMWK unterstützen und an Krisenteams mitwirken.
  • Fernleitungs- und Verteilnetzbetreiber nehmen weiterhin ihre in §§ 16 Abs. 1, 16a des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG) normierte Aufgabe wahr, auf eine Gefährdung und etwaige Störung der Gasversorgungssicherheit mit marktbezogenen Maßnahmen (z.B. Abruf von interner und externer Regelenergie) sowie netzbezogenen Maßnahmen (z.B. Nutzung von Netzschaltungen und Fahrwegänderungen) zu reagieren.
  • Reichen die in § 16 Abs. 1 EnWG normierten netz- und marktbezogenen Maßnahmen nicht aus, können die Netzbetreiber Notfallmaßnahmen gem. § 16 Abs. 2 EnWG ergreifen. Das schließt auch das Recht ein, Gasausspeisungen zu kürzen bzw. von Gaslieferanten oder Letztverbrauchern einen Ausspeisungsverzicht zu verlangen, soweit die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Netzbetriebs das erfordert. Bestimmte Kundengruppen sind dabei gem. § 53a EnWG privilegiert (z.B. Privathaushalte und Krankenhäuser). Eine nachrangige Abschaltung kann aufgrund von § 16 Abs. 2a EnWG auch für systemrelevante Gaskraftwerke gelten. Im Übrigen sind die Netzbetreiber bei der Konkretisierung und Festlegung einer Abschaltreihenfolge in erster Linie an ihren Auftrag zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Zuverlässigkeit des Netzbetriebs gebunden. Die dementsprechend erforderliche Vorgehensweise haben sie in ihrem gemeinsamen „Leitfaden Krisenvorsorge Gas“ konkretisiert.
  • Kürzen die Netzbetreiber die Gasausspeisungen unter Einhaltung der Vorgaben des § 16 Abs. 2 EnWG, sind sie gegenüber den Betroffenen nicht zum Ersatz eines Vermögensschadens verpflichtet; das gilt auch dann, wenn es sich bei den Betroffenen um industrielle Gasverbraucher handelt. Industrielle Gasverbraucher haben deshalb einen Anreiz, entschädigungslose Notfallmaßnahmen nach § 16 Abs. 2 EnWG zu verhindern, indem sie auf dem Regelenergiemarkt Nachfrageflexibilitäten gegen entsprechende Vergütung anbieten oder mit ihren Netzbetreibern Lastabschaltungsvereinbarung gem. § 14b EnWG abschließen.

B. Die Notfallstufe

Die höchste Eskalationsstufe des Notfallplans stellt die sog. Notfallstufe dar.

  • Sie ist wie folgt definiert: „Es liegt eine außergewöhnlich hohe Nachfrage nach Gas, eine erhebliche Störung der Gasversorgung oder eine andere beträchtliche Verschlechterung der Versorgungslage vor und es wurden alle einschlägigen marktbasierten Maßnahmen umgesetzt, aber die Gasversorgung reicht nicht aus, um die noch verbleibende Gasnachfrage zu decken, sodass zusätzlich nicht marktbasierte Maßnahmen ergriffen werden müssen, um insbesondere die Gasversorgung der geschützten Kunden gemäß Artikel 6 sicherzustellen.“
  • Die Notfallstufe muss von der Bundesregierung per Rechtsverordnung ausgerufen werden. Sollten russische Gaslieferungen nicht nur vorrübergehend eingestellt werden oder Deutschland bzw. die Europäische Union ein Gasembargo beschließen, ist die Ausrufung der Notfallstufe wahrscheinlich.

Die Konsequenzen der Notfallstufe sind einschneidend:

  • Wird die Notfallstufe aktiviert, liegen grundsätzlich auch die Voraussetzungen einer unmittelbaren Störung bzw. Gefährdung der Gasversorgungssicherheit iSd. § 1 Energiesicherungsgesetz (EnSiG) vor. In diesem Fall werden die im EnSiG und in der Gassicherungsverordnung (GasSV) vorgesehenen hoheitlichen Maßnahmen ergriffen.
  • Im Falle einer Krise mit überregionalen Auswirkungen würde die Bundesnetzagentur solche Maßnahmen als sogenannter Bundeslastverteiler ausführen. Sie könnte dann beispielsweise anordnen, dass Erdgas in bestimmten Bereichen durch andere Brennstoffe ersetzt wird. Ebenso kann sie Verbrauchsreduktionen bzw. Abschaltung von Kunden, wie etwa Industriekunden, anordnen. Bei der Anordnung der Abschaltreihenfolge gilt wiederum die Privilegierung besonders geschützter Kundengruppen, wie etwa von Privathaushalten oder Krankenhäusern.
  • Wird die Bundesnetzagentur als Lastverteiler tätig, agiert sie nicht als unabhängige Regulierungsbehörde, sondern unterliegt den Weisungen des BMWK. Insofern kann das BMWK die Abschaltreihenfolge per Weisung bestimmen.
  • Grundsätzlich werden auch nach Ausrufung der Notfallstufe marktbasierte Maßnahmen aktiviert; die Netzbetreiber nehmen ihre Systemverantwortung also weiterhin subsidiär zur Lastverteilung der Bundesnetzagentur wahr.

Bei Notfallmaßnahmen nach dem EnSiG gelten insbesondere folgende Entschädigungs- und Vergütungsregeln:

  • Stellt eine aufgrund des EnSiG oder der GasSV erlassene Maßnahme eine Enteignung dar, können die von der Maßnahme betroffenen Unternehmen gem. § 11 EnSiG eine Entschädigung verlangen. Der Begriff der Enteignung ist an Art. 14 Abs. 3 GG angelehnt und bezieht sich auf Eigentum im verfassungsrechtlichen Sinne, mithin auch auf den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb sowie zivilrechtliche Forderungen. Nach jüngerer bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung setzt eine Enteignung den Entzug des Eigentums durch Änderung der Eigentumszuordnung voraus und kann nur in Gestalt einer öffentlichen Güterbeschaffung realisiert werden. Zu der Zeit, als § 11 EnSiG erlassen wurde, vertrat das Bundesverfassungsgericht demgegenüber einen weiten Enteignungsbegriff, der neben formalen Enteignungen im vorstehenden Sinne auch enteignende und enteignungsgleiche Eingriffe erfasste. Von diesem historischen Enteignungsbegriff ist der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesbegründung ausgegangen. Bislang bestand noch kein Anlass für eine gerichtliche Entscheidung, ob im Rahmen des § 11 EnSiG der historische Enteignungsbegriff oder der später vom Bundesverfassungsgericht konkretisierte Enteignungsbegriff maßgeblich ist. Nur auf Basis des historischen Verständnisses dürfte § 11 EnSiG als Rechtsgrundlage für Entschädigungsansprüche aufgrund hoheitlich verfügter Lastabschaltungen in Betracht kommen.
  • Fehlt es an einer Enteignung, können maßnahmenbetroffene Unternehmen gem. § 12 EnSiG gleichwohl eine Entschädigung verlangen, soweit ihre wirtschaftliche Existenz durch unabwendbare Schäden gefährdet oder vernichtet ist oder die Entschädigung zur Abwendung oder zum Ausgleich ähnlicher unbilliger Härten geboten ist. Auch diese Regelung war bislang nicht Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen. Grundsätzlich ist es denkbar, dass hoheitlich verfügte Lastabschaltung gegenüber industriellen Gasverbrauchern die Voraussetzungen einer Entschädigungspflicht gem. § 12 EnSiG begründen. Ob und in welcher Höhe Entschädigungsansprüche begründet sind, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, namentlich den Eigenheiten und dem jeweiligen Stadium der Krise und der besonderen Betroffenheit des Anspruchsstellers.
  • Sollte im Rahmen des § 11 EnSiG der neuere vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Enteignungsbegriff maßgeblich sein, dürften neben den Entschädigungsregeln gem. §§ 11, 12 EnSiG außerdem ungeschriebene Entschädigungsansprüche aufgrund enteignender oder enteignungsgleicher Eingriffe anwendbar sein. Deren Voraussetzungen hat der BGH in seiner ständigen Rechtsprechung ausgeformt. Ein enteignender Eingriff erfordert dabei einen rechtmäßigen hoheitlichen Eingriff in eine verfassungsrechtlich geschützte Eigentumsposition, wohingegen ein enteignungsgleicher Eingriff bei einem rechtswidrigen hoheitlichen Eingriff in Betracht kommt. Hinzutreten muss jeweils ein Sonderopfer, das beim enteignungsgleichen Eingriff durch die Rechtswidrigkeit des hoheitlichen Eingriffs indiziert wird und beim enteignenden Eingriff demgegenüber im Einzelfall nachzuweisende Auswirkungen verlangt, die aufgrund ihrer Dauer, Art und Intensität so hoch sind, dass dem Betroffenen eine entschädigungslose Hinnahme nicht zugemutet werden kann.
  • Verfügt die Bundesnetzagentur bestimmte Lastverteilungen, gilt gem. § 2 S. 2 GasSV für die verfügten Leistungen ein übliches Entgelt und in Ermangelung eines solchen ein angemessenes Entgelt. Der Preis für Gaslieferungen wird insofern nicht wettbewerblich, sondern nach normativen Kriterien ermittelt. Der Regelungsgehalt der Begriffe der Üblichkeit und Angemessenheit dürfte einen erheblichen Einfluss darauf haben, welche wirtschaftlichen Risiken Gaslieferanten sowie weiterversorgte Industrieunternehmen im Falle der Erreichung der Notfallstufe tragen.

Der deutsche „Notfallplan Gas“ – Risiken und Entschädigungsregeln für Industriekunden und Gasversorger
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